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Erinnerung an ermordete Sinti und Roma

In den 1930er-Jahren machte der Fotograf Hanns Weltzel aus Dessau zahlreiche Fotos von Sinti und Roma. Eine Ausstellung zeigt die ungewöhnlichen Bilder jetzt – und erzählt vom Leidensweg der abgebildeten Menschen.

Wenn Raffaela Laubinger die alten Fotografien ihrer Vorfahren betrachtet, merkt man schnell, wie tief sie dieser Anblick noch immer bewegt. Die Aufnahmen sind vor vielen Jahrzehnten entstanden, doch Laubinger kennt sie erst seit 2018. Auf einer Holocaust-Gedenkfeier hat sie erfahren, dass es die Aufnahmen gibt. Eine große Überraschung, erzählt sie, „ich wusste nicht, dass diese Fotos überhaupt existieren.“

Raffaela Laubinger stammt aus einer Sinti-Familie, die von den Nationalsozialisten beinahe vollständig ausgelöscht wurde. Insgesamt 90 Angehörige, vom Kind bis zur Großmutter, wurden in verschiedenen Konzentrationslagern ermordet. Ihr Vater war einer der wenigen, die den Völkermord überlebten. Mit der Deportation der Familie verschwanden auch fast alle persönlichen Dokumente und Fotografien, erzählt die Sintizza. „Es wurde ihnen ja alles abgenommen, als sie verschleppt wurden.“

Hanns Weltzel – ein ungewöhnlicher Fotograf

Dass Raffaela Laubinger nun doch noch erfahren konnte, wie ihre Großeltern, Onkel und Tanten aussahen, ist Jana Müller zu verdanken. Die Mitarbeiterin des Stadtarchivs Dessau-Roßlau beschäftigt sich seit langem mit dem Holocaust an den Sinti und Roma und hat die Bilder aufgespürt – in Liverpool, wohin die meisten nach dem Krieg auf Umwegen gelangt waren. Gemeinsam mit der britischen Historikerin Eve Rosenhaft hat Müller die Herkunft der Fotografien und die Leidenswege der abgebildeten Menschen recherchiert. Daraus ist eine berührende Ausstellung entstanden, die derzeit in Dresden zu sehen ist.

Die Aufnahmen haben eine ungewöhnliche Geschichte. Sie stammen von dem Fotojournalisten Hanns Weltzel aus Roßlau, der in den 1930er-Jahren Dutzende Aufnahmen von Sinti und Roma machte. Anders als die Nationalsozialisten blickte er nicht mit Verachtung auf diese Menschen, sondern war fasziniert von ihrem Leben und ihrer Kultur. Das zeigt sich auch in seinen Aufnahmen: keine Propagandabilder, sondern Fotografien, die Frauen, Männer und Kinder auf Augenhöhe zeigen.

Vor der Deportation stand die Erfassung

„Er war nicht ganz frei von Romantisierung und auch nicht von Überlegenheitsdenken“, sagt Jana Müller. Trotzdem habe Hanns Weltzel ein „Herz für die Sinti und Roma“ besessen und seine Zeitgenossen darüber aufklären wollen, dass ihre Vorurteile nicht stimmen. Oft besuchte er die Sinti und Roma in der Region Dessau, mit vielen entstand eine persönliche Freundschaft. Geschützt hat Weltzel seine Freunde allerdings nicht. Als ihre Deportation in die Konzentrationslager beginnt, schweigt er.

Auch von der Verschleppung und der Ermordung der Abgebildeten erzählt die Ausstellung in Dresden. Neben Weltzels Bildern werden deshalb auch die Akten gezeigt, die von Hitlers Verfolgungsbehörden über sie angelegt worden waren. Die Nationalsozialisten machten damals ebenfalls Fotografien der Menschen, doch ganz anders als Weltzel: kriminalpolizeiliche Aufnahmen zur systematischen Erfassung aller sogenannten „Zigeuner“ – der Auftakt zu dem Völkermord an Hunderttausenden Roma und Sinti.

Der vergessene Holocaust an den Sinti und Roma

Die Aufarbeitung dieses Verbrechens wurde lange vernachlässigt. Einen Grund dafür sieht Jana Müller darin, dass Roma und Sinti weder einen eigenen Staat noch Fürsprecher in anderen Ländern hinter sich hatten: „Deutschland hatte hier einfach keinen Druck.“ Erst 1982 – fast 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – erkannte die Bundesregierung unter dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt die Verfolgung von Roma und Sinti in der NS-Zeit als Völkermord an.

Die Erinnerung an die Ermordeten zu bewahren, ist ein zentrales Ziel der Ausstellung über die historischen Fotografien von Hanns Weltzel. Die Originale werden in einem Archiv der Universität Liverpool bewahrt – Nachfahren wie Raffaela Laubinger konnten jedoch Abzüge erhalten. „Diese Bilder sind sehr, sehr wertvoll für mich, denn das ist ja meine Familie“, sagt sie. „Und ich bin auch dankbar, dass es diese Ausstellung gibt – weil wir einfach ein Volk sind, das vergessen worden ist in der Geschichte.“

Erschienen

16.10.2019 - Deutsche Welle

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