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Täterarbeit – ein Hebel gegen häusliche Gewalt

Die Fälle häuslicher Gewalt haben in der Corona-Krise deutlich zugenommen. In psychosozialen Trainings können Täter lernen, ihre Wut zu kontrollieren.

Die häusliche Gewalt ist im Lockdown nicht nur gestiegen – die Verletzungen werden auch zunehmend schwerer. Täter benutzen Gürtel und Stöcke, außerdem würgen sie ihr Opfer immer öfter am Hals.

Diese bedrückenden Erkenntnisse über das Corona-Jahr 2020 hat die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité jetzt veröffentlicht. Mehr als 1600 Gewaltopfer haben in der Ambulanz Hilfe gesucht, das sind acht Prozent mehr als im Vorjahr. Die überwiegende Mehrheit der Opfer sind Frauen und Kinder.

Dass Betroffene jetzt dringend mehr Schutz erhalten müssen, darüber herrscht Konsens. Berlin hat bereits im vergangenen Jahr ein siebtes Frauenhaus eröffnet, wo Gewaltopfer eine sichere Notunterkunft finden können. In diesem und im kommenden Jahr sollen zwei weitere folgen.

Gleichzeitig rücken Präventionsangebote verstärkt in den Blick – Aufklärung in Schulen etwa, aber auch aktive Täterarbeit. Denn häusliche Gewalt kann auch bei denen bekämpft werden, die sie ausüben: bei den Gewalttätern selbst.

Täter aus allen Teilen der Gesellschaft

Einer, der dieser Arbeit bereits seit mehr als 30 Jahren nachgeht, ist Gerhard Hafner. Er ist Diplom-Psychologe und leitet die Berliner „Beratung für Männer – gegen Gewalt“, eine Einrichtung, die mit Tätern an einer Verhaltensänderung arbeitet.

Den meisten wird die Teilnahme an dem psychosozialen Training vom Jugendamt, einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft auferlegt, nachdem sie als Gewalttäter aktenkundig geworden sind. Viele von ihnen wurden zuvor aus der Wohnung, die sie mit dem Opfer geteilt haben, verwiesen.

Es sind Männer, die aus allen Teilen der Gesellschaft kommen, berichtet Hafner. „Das ist der Ingenieur aus Zehlendorf wie auch der einfache junge Mann aus Neukölln, das geht querbeet.“ Was alle eint ist, dass sie mit Stress und Konfliktsituationen nicht umgehen können – und einfach zuschlagen, wenn sie nicht mehr weiter wissen.

In den meisten Fällen geht auch ein starres Rollendenken damit einher. Wie ist diesen Männern zu vermitteln, dass ihre Gewaltausbrüche fundamental falsch sind?

Strategien gegen erneute Gewalt

„Wer hierherkommt, weiß ein Stück weit schon, dass er Probleme hat, die mit ihm selbst zu tun haben, dass er ein Verhalten hat, das nicht mehr in Ordnung ist“, sagt Gerhard Hafner. An dieser Stelle können er und die Psychologen, die mit ihm zusammenarbeiten, ansetzen.

In mehrmonatigen Gruppen- und Einzeltrainings sollen die Täter dann lernen, ihre Affekte zu kontrollieren, ein Gegenüber wirklich wahrzunehmen, gesprächsfähig zu werden. Und bewusst Verantwortung für die ihre Gewalttaten zu übernehmen.

„Es gibt auch Männer, die dazu nicht bereit sind und die wir wieder wegschicken“. Die meisten bleiben jedoch und oft kann Hafner im Laufe des Trainings feststellen, „dass der Beton aufgeht“. Dass sich Menschen nicht innerhalb weniger Monate von Grund auf ändern, weiß der Psychologe natürlich.

Deshalb bleiben er und seine Kollegen nach dem Programm mit den Männern in Kontakt. Bei Rückfällen in die Gewalttätigkeit sollen diese das Gespräch mit der Beratungsstelle schnell wieder aufnehmen können.

Gewalttäter zeigen Verhaltensänderungen

Bundesweit gibt es inzwischen etwa 80 Einrichtungen, die Täterarbeit mit einem Schwerpunkt auf häuslicher Gewalt anbieten. „Da hat sich fachlich viel getan“, sagt Roland Hertel, einer der Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit, dem Dachverband der Initiativen.

So gebe es mittlerweile bundesweite Standards für die Täterprogramme, ausgearbeitet mit der Unterstützung des Familienministeriums sowie in Kooperation mit mehreren großen Frauenverbänden in Deutschland.

An größeren Wirksamkeitsstudien fehlt es bislang zwar, eine gesamtdeutsche Erhebung ist laut Hertel aber in Vorbereitung. Wichtige Hinweise ließen sich jedoch bereits aus einer regionalen Untersuchung herauslesen: Danach zeige eine Mehrheit der Männer nach acht bis zehn Monaten Training im Großen und Ganzen stabile Verhaltensänderungen.

Der entscheidende Punkt: Die Partnerinnen der Gewalttäter haben die Entwicklung in parallelen Befragungen in vielen Fällen bestätigt.

Nur eine Beratungsstelle für ganz Berlin

„Man ist dann aber trotzdem nicht geheilt“, sagt Gerhard Hafner, der mit seinem Team jedes Jahr etwa 300 Gewalttäter betreut. „Ich vergleiche es immer mit einem trockenen Alkoholiker – es gibt weiterhin eine Gefahr.“

Durch die Belastungen in der Corona-Krise wächst diese Gefahr enorm – die Ressourcen der Täterarbeit sind indes vielerorts überschaubar. Hafners Beratungsstelle, die vom Sozialverband Volkssolidarität getragen wird und aus insgesamt vier Kräften besteht, ist die einzige für ganz Berlin.

Wunsch der Opfer: „Dass jemand mal mit dem Mann redet“

Mehr derartige Einrichtungen würde sich auch Heike Herold wünschen, Geschäftsführerin der Frauenhauskoordinierung. Der Verein unterstützt bundesweit knapp 500 Frauenhäuser und Fachberatungsstellen und hat an den Standards für die in der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit organisierten Initiativen mitgearbeitet.

„Das war ein guter Prozess“, sagt Herold über die Kooperation. „Wir können es nur begrüßen, wenn sich weitere Einrichtungen auf der Grundlage dieser Standards gründen.“ Für wichtig hält Heike Herold solche Angebote auch, weil längst nicht alle Gewalttäter am Ende juristisch belangt werden und viele Partnerschaften weiter andauern.

Die Teams aus den Einrichtungen der Täterarbeit seien „dann letztendlich die einzigen, die eine Verhaltensänderung thematisieren.“ Für die Opfer sei genau das aber sehr wichtig: „Die meisten Betroffenen haben den ganz großen Wunsch, dass jemand mal mit dem Mann redet.“

 

Kaum bekannte Kunst: Independent Comics vom Balkan

Comics aus Frankreich, Belgien oder den USA kennt jeder. Aber vom Balkan? Dabei besitzt Südosteuropa eine überaus vielfältige Comic-Szene. Die Wander-Ausstellung comiXconnection zeigt Beispiele von mehr als 60 Künstlern.

Eingefleischte Fans des Marvel-Universums seien vorab gewarnt: Superhelden sucht man in dieser Ausstellung eher vergeblich. Vielmehr sind es Antihelden, die derzeit im Berliner Museum Europäischer Kulturen zu sehen sind: „The Lavanderman“ des kroatischen Zeichners Vančo Rebac zum Beispiel, ein lila Muskelmann, der aus Lavendel magische Kräfte bezieht – aber trotzdem andauernd scheitert. Oder auch „Horny Dyke“ von HelenaJanečić, ein Comic, in dem eine junge lesbische Frau die Hauptfigur ist.

Es sind keine Comics für den Massengeschmack, die hier präsentiert werden, sondern Werke aus der alternativen Comicszene, wo man sich um die Vorlieben des Publikums nicht allzu viel schert. Auch in den Ländern Südosteuropas hat sich so eine Szene entwickelt. Nur, dass sie über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus kaum bis gar nicht bekannt ist. Genau damit will die Ausstellung aufräumen und präsentiert Comics aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Rumänien, Serbien, Slowenien und Ungarn.

Der Blick geht immer nach Westen

Wenn es um Comics gehe, werde immer nur nach Westen geschaut, fasst Kuratorin Beate Wild die Situation zusammen. „Dort sind die tollen Festivals und von dort kommt das Geld.“ Dass sich auch der Blick auf den Balkan lohnt, hätten viele dagegen nicht auf dem Schirm. „Es gibt einen weit verbreiteten Glauben, dass aus Südosteuropa immer nur Arbeitsmigranten kommen,“ fügt die Kuratorin der Ausstellung hinzu. Deshalb mangele es gegenüber Comickünstlern aus den betreffenden Ländern oft an Interesse und auch an Wertschätzung.

Wissenslücken gibt es allerdings nicht nur im Westen. Auch innerhalb der einzelnen Staaten wissen viele nicht, was sich in Sachen Comic im Nachbarland abspielt. Das liege zum Teil an den verschiedenen Sprachen, sagt Beate Wild. Aber auch daran, dass jedes Land seine eigene Geschichte mitbringe. „Tito etwa hat Comics geliebt, deshalb konnte sich die Szene im ehemaligen Jugoslawiens gut entwickeln.“ In Rumänien dagegen begann die Comic-Szene erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs richtig zu wachsen.

Verbindungen über alle Ländergrenzen hinweg

Solche Unterschiede will die Ausstellung aufspüren, gleichzeitig aber auch zeigen, was die südosteuropäischen Comic-Künstler verbindet. Die Themen etwa, von denen sie erzählen – Korruption, Populismus oder häusliche Gewalt. Aber auch ähnliche Formen des Erzählens, Zeichnens und Kolorierens. Um solche Gemeinsamkeiten bzw. Kontraste für den Besucher nachvollziehbar zu machen, haben die Ausstellungsmacher immer die Comics von zwei verschiedenen Künstlern auf einer Stellwand vereint.

„Es gibt hier keine Kroatien-, Rumänien- oder Serbien-Ecke“, erklärt Beate Wild das Konzept. Vielmehr gehe es um Verbindungen über alle Ländergrenzen hinweg – daher auch der Ausstellungstitel comiXconnection: „Der Leitgedanke ist die Vernetzung.“ Dieser Gedanke sollte laut Wild allerdings nicht nur auf dem Papier existieren, sondern auch für ganz reale Verknüpfungen zwischen Künstlern, Verlagen und Fans sorgen, was sich im Vorfeld mit einem enormen Organisationsaufwand verband.

Transnationaler Comic-Dialog

Denn damit jeder Besucher die Ausstellung, die inzwischen durch ganz Südosteuropa getourt ist, auch versteht, mussten sämtliche Comics in die jeweilige Landessprache gebracht werden. Mehr als 40 verschiedene Übersetzungsrichtungen haben sich dadurch ergeben. Ein Aufwand, der sich nach Ansicht der Kuratorin aber mehr als gelohnt hat: „Im Laufe der Zeit ist tatsächlich eine Art gemeinsame Identität der Beteiligten entstanden und viele finden es toll, dass sie bei diesem Projekt dabei sein konnten.“

Sichtbarster Ausdruck dieser neuen Verbindung ist ein gemeinschaftlich angefertigter Comic: Zehn der beteiligten Künstler aus fünf verschiedenen Ländern haben die Etappen der Ausstellung nachgezeichnet. Auch dieses Werk ist im Museum Europäischer Kulturen noch bis zum 1. Juni 2020 zu sehen. Berlin ist zugleich die letzte Station der Wanderausstellung, über die auf dem Balkan viel berichtet wurde. Die Macher hoffen nun, dass endlich auch Fans und Verlage im Westen die alternative Comicwelt im Südosten Europas für sich entdecken.

Erinnerung an ermordete Sinti und Roma

In den 1930er-Jahren machte der Fotograf Hanns Weltzel aus Dessau zahlreiche Fotos von Sinti und Roma. Eine Ausstellung zeigt die ungewöhnlichen Bilder jetzt – und erzählt vom Leidensweg der abgebildeten Menschen.

Wenn Raffaela Laubinger die alten Fotografien ihrer Vorfahren betrachtet, merkt man schnell, wie tief sie dieser Anblick noch immer bewegt. Die Aufnahmen sind vor vielen Jahrzehnten entstanden, doch Laubinger kennt sie erst seit 2018. Auf einer Holocaust-Gedenkfeier hat sie erfahren, dass es die Aufnahmen gibt. Eine große Überraschung, erzählt sie, „ich wusste nicht, dass diese Fotos überhaupt existieren.“

Raffaela Laubinger stammt aus einer Sinti-Familie, die von den Nationalsozialisten beinahe vollständig ausgelöscht wurde. Insgesamt 90 Angehörige, vom Kind bis zur Großmutter, wurden in verschiedenen Konzentrationslagern ermordet. Ihr Vater war einer der wenigen, die den Völkermord überlebten. Mit der Deportation der Familie verschwanden auch fast alle persönlichen Dokumente und Fotografien, erzählt die Sintizza. „Es wurde ihnen ja alles abgenommen, als sie verschleppt wurden.“

Hanns Weltzel – ein ungewöhnlicher Fotograf

Dass Raffaela Laubinger nun doch noch erfahren konnte, wie ihre Großeltern, Onkel und Tanten aussahen, ist Jana Müller zu verdanken. Die Mitarbeiterin des Stadtarchivs Dessau-Roßlau beschäftigt sich seit langem mit dem Holocaust an den Sinti und Roma und hat die Bilder aufgespürt – in Liverpool, wohin die meisten nach dem Krieg auf Umwegen gelangt waren. Gemeinsam mit der britischen Historikerin Eve Rosenhaft hat Müller die Herkunft der Fotografien und die Leidenswege der abgebildeten Menschen recherchiert. Daraus ist eine berührende Ausstellung entstanden, die derzeit in Dresden zu sehen ist.

Die Aufnahmen haben eine ungewöhnliche Geschichte. Sie stammen von dem Fotojournalisten Hanns Weltzel aus Roßlau, der in den 1930er-Jahren Dutzende Aufnahmen von Sinti und Roma machte. Anders als die Nationalsozialisten blickte er nicht mit Verachtung auf diese Menschen, sondern war fasziniert von ihrem Leben und ihrer Kultur. Das zeigt sich auch in seinen Aufnahmen: keine Propagandabilder, sondern Fotografien, die Frauen, Männer und Kinder auf Augenhöhe zeigen.

Vor der Deportation stand die Erfassung

„Er war nicht ganz frei von Romantisierung und auch nicht von Überlegenheitsdenken“, sagt Jana Müller. Trotzdem habe Hanns Weltzel ein „Herz für die Sinti und Roma“ besessen und seine Zeitgenossen darüber aufklären wollen, dass ihre Vorurteile nicht stimmen. Oft besuchte er die Sinti und Roma in der Region Dessau, mit vielen entstand eine persönliche Freundschaft. Geschützt hat Weltzel seine Freunde allerdings nicht. Als ihre Deportation in die Konzentrationslager beginnt, schweigt er.

Auch von der Verschleppung und der Ermordung der Abgebildeten erzählt die Ausstellung in Dresden. Neben Weltzels Bildern werden deshalb auch die Akten gezeigt, die von Hitlers Verfolgungsbehörden über sie angelegt worden waren. Die Nationalsozialisten machten damals ebenfalls Fotografien der Menschen, doch ganz anders als Weltzel: kriminalpolizeiliche Aufnahmen zur systematischen Erfassung aller sogenannten „Zigeuner“ – der Auftakt zu dem Völkermord an Hunderttausenden Roma und Sinti.

Der vergessene Holocaust an den Sinti und Roma

Die Aufarbeitung dieses Verbrechens wurde lange vernachlässigt. Einen Grund dafür sieht Jana Müller darin, dass Roma und Sinti weder einen eigenen Staat noch Fürsprecher in anderen Ländern hinter sich hatten: „Deutschland hatte hier einfach keinen Druck.“ Erst 1982 – fast 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – erkannte die Bundesregierung unter dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt die Verfolgung von Roma und Sinti in der NS-Zeit als Völkermord an.

Die Erinnerung an die Ermordeten zu bewahren, ist ein zentrales Ziel der Ausstellung über die historischen Fotografien von Hanns Weltzel. Die Originale werden in einem Archiv der Universität Liverpool bewahrt – Nachfahren wie Raffaela Laubinger konnten jedoch Abzüge erhalten. „Diese Bilder sind sehr, sehr wertvoll für mich, denn das ist ja meine Familie“, sagt sie. „Und ich bin auch dankbar, dass es diese Ausstellung gibt – weil wir einfach ein Volk sind, das vergessen worden ist in der Geschichte.“

Fotografen zeigen Großbritannien vor dem Brexit

Das Brexit-Chaos bedeutet eine Zeitenwende: Das Leben der Briten wird sich tiefgreifend verändern. Doch in welche Richtung? Acht junge Fotografen der Berliner Ostkreuzschule zeigen die aktuelle Stimmung im Land.

„Vielen Briten ist klargeworden, was der EU-Austritt bedeutet – und welche Folgen das haben wird“, beschreibt Fotograf Linus Muellerschoen die Atmosphäre in Großbritannien. Eine Woche war er zusammen mit sieben weiteren Fotografinnen und Fotografen der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin Weißensee in dem Land unterwegs, das vielleicht bald nicht mehr zur Europäischen Union gehören wird. Ein kurzer Zeitraum, aber Zeit genug, um ein Gefühl von der Gemütslage dort zu bekommen. Muellerschoen ist einer von acht Absolventen der renommierten Ostkreuzschule, die sich auf ihrer Reise mit dem Thema Brexit fotografisch beschäftigt haben.

Unter dem Titel „Distant Islands“ sind ihre Fotografien bis zum 12. Mai 2019 im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen, dem Sitz der Bundeszentrale der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Keine Fotos, die die derzeitigen politischen Konflikte abbilden, sondern Arbeiten, die den Finger subtil in die Wunde legen und mit subjektivem Empfinden arbeiten. „Es ist eine Mischung zwischen dokumentarischer und künstlerischer Fotografie“, sagt Bastian Thiery, der ebenfalls dabei war, über den Ansatz der jungen Ostkreuz-Fotografen. „Distant Islands“ bietet einen etwas anderen Blick auf den Brexit, der klar zeigt: Die Zukunft von Großbritannien ist vollkommen offen.

Syriens Kulturerbe lebt weiter – in Berlin

Zahllose Kulturgüter wurden im syrischen Bürgerkrieg zerstört. Das „Syrian Heritage Archive Project“ in Berlin hilft, die Erinnerung daran zu erhalten. Erstmals gibt eine Ausstellung nun Einblick in diese Arbeit.

© Issam Hajjar

Strahlend blau ist der Himmel auf dem Foto, das Issam Hajjar 2011 von der berühmten Umaiyyaden-Moschee in Aleppo gemacht hat. „Es war ein klarer Januartag und ich war in der Altstadt unterwegs, um Bilder aufzunehmen“, erinnert sich der syrische Fotograf noch heute genau. Das Bild zeigt den Innenhof der Moschee, belebt von Menschen, im Hintergrund das imposante Minarett des Gebetshauses, das zum Weltkulturerbe zählt.

Issam Hajjar hat zahllose solcher Bilder gemacht, von Bauwerken und archäologischen Stätten, aber auch vom einfachen Leben in der Provinz. Bilder, die heute von großem Wert sind. Denn sie helfen dabei, die Erinnerung an ein Land zu bewahren, das es so nicht mehr gibt. Mancherorts stehen nur noch ausgebombte Ruinen. Kulturstätten sind schwer beschädigt oder völlig zerstört – wie auch das Minarett der Umayyaden-Moschee, das im April 2013 nach schweren Kämpfen in der Stadt einstürzte.

Ein riesiges digitales Archiv

Der Fotograf, der heute in Berlin lebt, hat einen Teil seiner Bildersammlung deshalb an das „Syrian Heritage Archive Project“ übergeben, ein Gemeinschaftsprojekt des Museums für Islamische Kunst und des Deutschen Archäologischen Instituts. Seit 2013 sammeln deutsche und syrische Wissenschaftler Bilder, Filme und Berichte über die Kultur- und Naturschätze Syriens, digitalisieren sie und erstellen daraus ein Archiv. Ob alte Fotos oder archäologische Forschung: Alles wird erfasst und systematisch sortiert.

„Wir haben hier über die letzten sechs Jahre ein unglaubliches Datenvolumen angesammelt“, sagt Professor Stefan Weber vom Museum für Islamische Kunst in Berlin, der das Projekt vor sechs Jahren initiiert hat. Rund 340.000 Dokumente sind mittlerweile zusammengekommen – das umfassendste Archiv über Syrien außerhalb des Landes. „Das ist ein einmaliger Schatz.“

Eintauchen in Syriens Kulturgeschichte

Eine Auswahl aus diesem Schatz zeigt nun die Ausstellung „Kulturlandschaft Syrien – Bewahren und Archivieren in Zeiten des Krieges“ im Berliner Pergamonmuseum. Der Besucher kann dabei umherwandern zwischen fünf verschiedenen Stationen mit Bildern und Filmen, je eine für die Altstädte von Damaskus und Aleppo, für Palmyra und Raqqa sowie für die sogenannten Toten Städte – dörfliche Siedlungen aus spätrömischer und frühbyzantinischer Zeit.

Bewegend sind vor allem Fotografie-Paare, die zeigen, wie ein Ort vor dem Bürgerkrieg aussah – und was dieser daraus gemacht hat. Eine uralte Basarstraße in Aleppo etwa, hier erfüllt von lebendigem Treiben, dort nur noch ein Haufen Schutt. Die Betonung der Schau liegt aber nicht auf dem Verlust. Vielmehr wird daran erinnert, was Syrien weiterhin besitzt – ein jahrtausendealtes Kulturerbe von überragender Bedeutung.

Vorlage für den Wiederaufbau

„Es geht auch darum, den Syrern das selber klar zu machen“, sagt Karin Pütt, die das „Syrian Heritage Archive Project“ koordiniert. Ein Land, das mehr war und ist als der vernichtende Bürgerkrieg und an die vergangenen Zeiten hoffentlich irgendwann wieder anknüpfen kann. Denn auch das ist ein Ziel des Projekts: Anhaltspunkte für einen Wiederaufbau zerstörter Substanz nach dem Ende des Krieges zu liefern.

Seit 2015 wirkt auch Fotograf Issam Hajjar am Syrian Heritage Archive Projekt mit. Eine Tätigkeit, die nicht immer einfach ist, denn mit vielen Bildern aus seinem Heimatland verbindet sich, wie er sagt, „ein ganzes Paket an Erinnerungen“. Trotzdem ist ihm die Arbeit an dem digitalen Archiv in Berlin ein Herzensanliegen: „Zu zeigen, welche Vielfalt Syrien besitzt, ist für mich eine Lebensmission.“

Der lange Schatten der Roten Khmer

Am 17. April 1975 nahmen die Roten Khmer Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh ein, Anfang 1979 beendete Vietnam ihre Terrorherrschaft. Die Aufarbeitung ist mühsam und stößt auf psychologische und politische Widerstände.

Sengende Hitze liegt über der staubigen Landschaft in der Provinz Kandal südlich von Phnom Penh. Um sich vor der Sonne zu schützen, hat Arun seinen Krama, den traditionellen Baumwollschal der Khmer, eng um Kopf, Hals und Ohren gewickelt. Der kleine Mann mit dem gekrümmten Rücken ist Bauer und Entenzüchter – und ein ehemaliger Sicherheitsmann der Roten Khmer. Arun ist nicht sein richtiger Name – wir haben vereinbart, dass er den für sich behalten darf.

1975 wurde Arun von den Anhängern Pol Pots rekrutiert, da war er gerade 16 Jahre alt. Man machte ihn zum Wächter in einem Internierungslager unweit von seinem Dorf. Ähnlich wie in dem berüchtigten Foltergefängnis Tuol Sleng in Phnom Penh wurden auch hier Menschen gequält und ermordet. In ganz Kambodscha unterhielten die Steinzeitkommunisten während ihrer Terrorherrschaft solche grausamen Lager.

Menschen seien damals für „Fehler bestraft worden“, berichtet Arun zunächst ausweichend. Erst auf Nachfrage gibt er zu, was das bedeutet – brutale Folter und dutzendfacher Mord. Daran beteiligt gewesen sein will er nicht, er habe nur die Namenslisten von Verdächtigen weitergeben müssen.

Was ging ihm damals angesichts der Gräueltaten durch den Kopf? Arun überlegt einen Moment. „Ich habe nicht nachgedacht, sondern nur versucht, alle Befehle genau zu befolgen.“ Wie viele ehemalige Rote Khmer beruft er sich darauf, keine Wahl gehabt zu haben. „Ich hatte Angst um mich selbst.“

Viele Täter sehen sich als Opfer

Tatsächlich brachten die Roten Khmer auch Zehntausende ihrer eigenen Anhänger um. Wurden zu Beginn der Herrschaft Pol Pots vor allem Intellektuelle, Beamte und Anhänger des alten Regimes getötet, verlagerte sich der Massenmord später auf vermeintliche Abweichler in den eigenen Reihen. Das Foltergefängnis Tuol Sleng in Phnom Penh belegt, welches Ausmaß die Paranoia der Revolutionäre erreichte: 80 Prozent der mehr als 14.000 Menschen, die hier qualvoll starben, waren selbst Rote Khmer.

Viele, die dem Pol-Pot-Regime einst dienten, sehen sich deshalb als Opfer. Wie Arun wollen sie an nichts schuld gewesen sein, rechtfertigen ihren Kadavergehorsam mit der Furcht vor grausamer Bestrafung. Statt Mitverantwortung einzuräumen, richtet man den Finger auf jene, die in der Hierarchie weiter oben standen.

Eine Studie der University of California in Berkley belegt, wie tief sich diese Wahrnehmung ins kollektive Bewusstsein eingegraben hat. Danach beschreiben sich 90 Prozent der Kambodschaner, die die Herrschaft der Roten Khmer selbst miterlebt haben, als Opfer. Unter ihren Nachkommen sind es mehr als 50 Prozent.

Hun Sen will Schlussstrich ziehen

Die Klärung von Schuldfragen fällt dem südostasiatischen Land deshalb bis heute enorm schwer. Dazu kommt, dass die alten Seilschaften noch immer existieren und viele ehemalige Kader inzwischen zur politischen Elite gehören. Geht es nach dem Willen der Regierung, kann unter das dunkle Kapitel Kambodschas ohnehin ein Schlussstrich gezogen werden.

Ministerpräsident Hun Sen – bis 1977 selbst Kommandant bei den Roten Khmer – blockiert alle Aufklärungsbemühungen hartnäckig. Dass sich das Rote-Khmer-Tribunal (ECCC) nach der Verurteilung der führenden Köpfe nun weitere Ex-Funktionäre vornehmen will, lehnt er strikt ab. Das Wühlen in der Vergangenheit gefährde den fragilen Frieden im Land, so Hun Sen kürzlich, und könne gar zu einem Bürgerkrieg führen.

Das gegenseitige Misstrauen ist in der Tat groß in Kambodscha. Nicht selten wohnen Täter und Opfer Tür an Tür, manchmal gehören sie sogar zur gleichen Familie. „Unsere Gesellschaft ist wie ein Glas, das auf dem Boden zersplittert ist“, beschreibt Youk Chhang vom Documentation Center of Cambodia (DC-Cam), dem weltweit größten Archiv über die Zeit der Roten Khmer, die Situation in seinem Land. Nun, sagt er, muss man die Scherben wieder zusammenzufügen.

Deutschland hilft bei der Aufarbeitung

Die alten Wunden nicht neu aufreißen, Schuldfragen aber auch nicht totschweigen – vor diesem Dilemma steht jeder Versuch, die Erinnerung an den Völkermord wach zu halten. Wie schwer es ist, diesen Grat zu beschreiten, zeigt auch die Kontroverse um neues Denkmal für die Opfer des Foltergefängnisses Tuol Sleng in Phnom Penh.

Rund um die steinerne Stupa liegen schwarze Marmortafeln, auf denen die Namen der Toten aufgelistet sind, sowohl die der Zivilisten als auch der ermordeten Roten Khmer. Finanziert hat das Denkmal die Bundesrepublik, Ende März wurde es von Deutschlands Botschafter eingeweiht, in Anwesenheit ranghoher Mitglieder von Kambodschas Regierung sowie von Vertretern des Rote-Khmer-Tribunals und der UN..

Deutschland mit seiner besonderen Erfahrung in Fragen der Aufarbeitung unterstützt in Kambodscha NGOs, die sich mit dem Völkermord beschäftigen. Das Denkmal jedoch, sagt Youk Chhang vom DC-Cam, sei ein falsches Signal. Bei allem Willen zur Versöhnung dürfe man nicht alle in den gleichen Topf werfen. „Zivilisten und ermordete Anhänger hatten nicht die gleiche Verantwortung.“ Dass einstige Täter – auch wenn sie später selbst zu Opfern wurden – auf einem Denkmal gewürdigt würden, könne von den Überlebenden des Regimes als Belastung empfunden werden.

Neue Hürden für NGOs

Erinnerungsarbeit und Aufklärung in Kambodscha richtig auszutarieren ist eine Herausforderung. Leichter wird sie in der Zukunft sicher nicht. Ministerpräsident Hun Sen will im Mai ein Gesetz auf den Weg bringen, das es ermöglicht, die Arbeit von NGOs in Kambodscha deutlich strenger zu kontrollieren. Offiziell will er so den möglichen Einfluss von ausländischen Terrororganisationen begrenzen. Dass sich so auch alle zivilen Anstrengungen zur Aufarbeitung des Völkermords besser überwachen lassen, dürfte für ihn ein willkommener Nebeneffekt sein.